Rund 80 Prozent aller Schlaganfälle werden durch eine Durchblutungsstörung des Gehirns ausgelöst. Häufigste Ursache ist ein Blutgerinnsel, welches ein Hirngefäss verschliesst. Man spricht in diesem Fall von einem Hirninfarkt oder - in der Fachsprache - von einem ischämischen Schlaganfall. Das Gerinnsel hat zur Folge, dass die Gehirnzellen nicht genügend Sauerstoff und Nährstoffe erhalten und dadurch absterben. Um bleibende Schäden oder gar den Tod der betroffenen Person zu verhindern, muss es so schnell wie möglich entfernt werden.
Die Akutbehandlung des Hirninfarkts beruht derzeit auf zwei wesentlichen Massnahmen: der Thrombolyse, auch Lysetherapie oder kurz Lyse genannt, und der Thrombektomie. Beide verfolgen dasselbe Ziel, nämlich den Blutfluss wieder in Gang zu setzen. Bei der Lysetherapie wird Schlaganfallbetroffenen ein Medikament verabreicht, welches das Blutgerinnsel auflösen soll. Bei der Thrombektomie wird dieses mechanisch mit sogenannten Kathetern entfernt.
Thrombektomie mit oder ohne vorangehende Thrombolyse?
In der Regel erhalten Schlaganfallbetroffene, bei denen eine Thrombektomie durchgeführt wird, vorgängig eine Lyse. Da die Lysebehandlung aber ein erhöhtes Blutungsrisiko mit sich bringt, stellt sich die Frage, ob das kombinierte Vorgehen notwendig ist oder ob eine alleinige Thrombektomie – sofern diese sofort durchgeführt wird - ebenso gute oder sogar bessere Ergebnisse erzielen kann. Vier kürzlich erschienene internationale Studien kamen zu widersprüchlichen Schlüssen, was in Fachkreisen zur Verunsicherung führt.
Einen wichtigen Beitrag zur Klärung dieser Kontroverse leistet eine neue internationale Studie unter der Leitung des Stroke Centers am Inselspital, Universitätsspital Bern. Die Studie zeigt, dass sich mit der alleinigen Thrombektomie weniger gute Ergebnisse erzielen lassen als beim kombinierten Vorgehen – erst Lyse, danach Thrombektomie. Die Ergebnisse wurden in der jüngsten Ausgabe des renommierten Fachmagazins «The Lancet» publiziert.
Chance für Wiedereröffnung der Hirngefässe mit Kombinationstherapie signifikant höher
Für die Studie wurden in den Jahren 2017 bis 2021 an 48 verschiedenen Schlaganfallzentren in Europa und Kanada 408 Patientinnen und Patienten mit einem akuten Hirnschlag rekrutiert. Nach dem Zufallsprinzip erhielt die eine Hälfte der Studienteilnehmenden eine alleinige Thrombektomie und die andere Hälfte eine Kombination aus Thrombolyse und Thrombektomie.
Mit der Kombinationstherapie konnte bei 96 Prozent der Schlaganfallbetroffenen die Durchblutung der verschlossenen Gefässe wiederhergestellt werden, mit der alleinigen Thrombektomie dagegen nur bei 91 Prozent. Die Rate der Patientinnen und Patienten, die drei Monate nach dem Hirnschlag wieder unabhängig leben konnten, war 65 Prozent bei Studienteilnehmenden mit Kombinationstherapie und 57 Prozent bei Studienteilnehmenden mit alleiniger Thrombektomie. Das Risiko einer Hirnblutung war bei der Kombinationstherapie nicht signifikant höher als bei der alleinigen Thrombektomie (3 Prozent gegenüber 2 Prozent).
«In Anbetracht unserer Ergebnisse ist bei Betroffenen, bei denen nichts gegen eine Thrombolyse spricht, der Verzicht auf eine Lysebehandlung vor der Thrombektomie nicht gerechtfertigt», kommentieren die Studienleiter Prof. Dr. med. Urs Fischer und Prof. Dr. med. Jan Gralla vom Stroke Research Center am Inselspital. «Die Studie zeigt auch, dass mit der Kombinationstherapie in den allermeisten Fällen eine Wiedereröffnung der betroffenen Hirngefässe gelingt. Entscheidender Faktor für den Heilungsverlauf bleibt, dass die Behandlung so schnell wie möglich eingeleitet werden kann.»
Als nächsten Schritt planen die Forschenden ein Therapieverfahren zu testen, bei welchem kleine Dosen eines Blutgerinnsel-auflösenden Medikaments nach der Thrombektomie verabreicht werden. Die Studie, an der sich wiederum mehrere internationale Schlaganfallzentren beteiligen werden, startet im Spätsommer dieses Jahres. «Sollte sie ein positives Ergebnis zeigen, könnte die Lyse in Zukunft nicht nur vor, sondern selektiv auch nach der Thrombektomie verabreicht werden und so den Grad der Beeinträchtigung von Schlaganfallbetroffenen weiter reduzieren», kommentiert der Studienleiter PD Dr. med. Johannes Kaesmacher.
Experten:
- Prof. Dr. med. Urs Fischer, Universitätsklinik für Neurologie, Universitätsspital Basel sowie Universitätsklinik für Neurologie, Universitätsspital Bern, Email: urs.fischer@usb.ch
- Prof. Dr. med. Jan Gralla, Universitätsinstitut für Diagnostische und Interventionelle Neuroradiologie, Inselspital, Universitätsspital Bern, und Universität Bern, Email: jan.gralla@insel.ch
Publikation:
Fischer U, Kaesmacher J, Strbian D, et al. Thrombectomy alone versus intravenous alteplase plus thrombectomy in patients with stroke: an open-label, blinded-outcome, randomised non-inferiority trial. Lancet 2022; 400: 104-115